Herbsttag
Letztes Jahr im Herbst war ich mit meiner Frau in Wasserburg am Bodensee in Urlaub. Beim Besuch des Sonntagsgottesdienstes beeindruckte mich eine Fürbitte:
„Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein.“
Diese Verse von Rainer Maria Rilke als Fürbitte fand ich in einer Weingegend so stimmig, dass mich das vollständige Gedicht interessierte. Ich möchte es Ihnen vorlegen und Sie einladen, es zu lesen.
Herbsttag
(von Rainer Maria Rilke)
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Manfred Boretzki
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